Glücksgeräusche

    Marie-Luise "Malu" Erne im Portrait

    Früher war Marie-Luise Erne oft traurig, weil sie kaum hören konnte. Dann wagte sie eine Operation, die ihr Leben veränderte. Heute möchte die 25-Jährige selbst Kinder mit Hörschädigung unterrichten. Porträt einer Lebensoptimistin.

    Text: Andreas Spengler, Fotos: privat.

    Niemand weiß genau, wann in Malus Welt die Geräusche starben. Es war zu einer Zeit, als die kleine Malu selbst nur knapp dem Tod entkam. Mit 16 Monaten bekam sie Antibiotika gegen eine hartnäckige Erkältung. Doch die Symptome wurden schlimmer, Malus Eltern unruhig. Schließlich ging die Mutter mit ihr ins Krankenhaus. Die erste Diagnose ergab eine Lungenentzündung. Doch ein Arzt zweifelte. Schließlich entdeckte er die Lebensgefahr: Malus Rückenmark war übersät mit Bakterien, eine schwere Hirnhautentzündung. Der Arzt erschrak. Er gab Malu ein Antibiotikum in der Hoffnung, dass es wirken würde. „Ich konnte mich nicht bewegen, nicht sprechen, war wie weggetreten“, so erzählte es ihr ihre Mutter.


    Meningitis

    Doch schließlich wirkte das Antibiotikum. Nach drei Wochen konnte Malu das Krankenhaus verlassen. „Jetzt ist alles wieder gut. Heim mit dir!“, sagten die Ärzte. Niemand ahnte, welche Schäden die Meningitis hinterlassen hatte. Als Malu in der Küche Schüsseln und Töpfe auf den Boden warf, verstand ihre Mutter nicht warum. „Wir dachten, du wolltest die Schüsseln tanzen lassen. Dabei wolltest du nur Geräusche hören“, schrieb die Mutter später in das Fotoalbum der Familie. Auch für Malus älteren Bruder war die Situation schwierig: „Er verstand nicht, warum ich nicht mehr reagierte, wenn er mit ihr sprach“, erzählt Malu. „Ich war wie eine Fremde für ihn.“


    Hörtest: Schwerhörig!

    Erst ein Hörtest brachte Gewissheit: Malu war schwerhörig. Für die Eltern ein Schock. Die Mutter machte sich Vorwürfe; oft hatte sie Malu behandelt wie ein Kind, das nicht hören wollte. Dabei hätte Malu nichts lieber getan, als normal zu hören. Auch um über das Hören das Sprechen zu lernen. Doch die Sprache fand nur schwer zu ihr.

    Malus Mutter war verzweifelt, aber gab nicht auf. Sie suchte Hilfe bei Ärzten und Logopäden und übte selbst jeden Tag mit ihrer Tochter.

    „Zeigte mir meine Mutter einen Ball, sagte sie: ‚Schau mal, das ist ein Ball!‘ Aber sie musste das Wort ‚Ball‘ hundert Mal wiederholen, in vielen Zusammenhängen, bis ich verstand, dass es um einen Ball ging“, erzählt Malu.



    Heute ist sie ihren Eltern dankbar. „Die Liebe und Unterstützung meiner Eltern und Großmütter haben mir stets Kraft gegeben und und das Selbstvertrauen, dass ich etwas erreichen kann, wenn ich will.“

     

    Malu fand ihren eigenen Weg, um ihre Gedanken auszudrücken: Morgens nahm sie oft Papier und Stifte und malte Bilder. Sonnenuntergänge, Mama, Papa, Kind und Hund vor einem Haus; Bilder einer glücklichen Familie, Bilder von Sehnsucht, manchmal ganze Geschichten. Die Bilder hängten ihre Eltern wie eine Tapete an die Decke. Eine Tapete aus Wünschen, Träumen, Gedanken.

     

    Malu heißt eigentlich Marie-Luise. Den Spitznamen hat ihr ihre Großmutter gegeben, weil darin kein „r“ vorkommt, weil er sanfter klingt und leichter zu sprechen ist. Im Kindergarten fragten die Kinder nach ihrem Namen. „Als ich ihnen sagte, ich heiße Malu, haben sie komisch geschaut.“ Damals spürte Malu, dass sie anders war. Doch sie konnte nicht erklären, warum sie anders sprach, anders dachte und kaum hörte. Und erst recht nicht, wie die anderen Kinder mit ihr umgehen sollten.

    Nach dem Kindergarten ging Malu zunächst auf die normale Grundschule. Sie wollte selbstständig sein und kannte nur die Welt der Hörenden. Sprache las sie vor allem von den Lippen ab und Hörgeräte unterstützten ihr schwaches Gehör.

     


    Schule wurde zum Kampf

    Doch die Schule wurde bald zum Kampf: Malu verbrachte Stunden damit, den Unterrichtsstoff nachzuarbeiten. In der vierten Klasse ging Malu probeweise für drei Wochen auf eine Hörgeschädigten-Schule. Sie erinnert sich noch gut an die Reaktion ihrer Mitschüler. „Die Klasse kam zu mir nach Hause und bat mich: ‚Malu, bitte komm zurück zu uns!‘“ „Warum?“, fragte Malu. „Seit du weg bist, spricht die Lehrerin so schnell beim Diktat. Jetzt bekommen wir alle schlechtere Noten.“

    Malu entschied sich trotzdem für die Hörgeschädigten-Schule. „Das war super. Es gab kleine Klassen, ich hab fast alles verstanden, musste nicht jedes Mal nachfragen und konnte selbstständig die Hausaufgaben erledigen“, sagt sie.


    Wenn ich könnte, ich würde Dir ein OHr abgeben.

    Doch bald merkte Malu, dass ihr Gehör schlechter wurde. Oft saß sie da und weinte. „Das ist unfair, ich will auch hören können“, sagte sie zu ihrer Mutter. „Wenn ich könnte, würde ich dir ein Ohr abgeben“, antwortete sie.

    Malu wurde immer unzufriedener. Nach mehreren Hörstürzen war sie fast taub, ihr Hörgerät zeigte keine Wirkung mehr. Damals war sie zwölf Jahre alt. Sie hatte sich bereits über ein Cochlea-Implantat (CI) informiert. Das CI funktioniert wie eine Prothese im Innenohr, die den Schall in elektrische Impulse umwandelt und so den Hörnerv stimuliert. Lange hatte Malu Angst vor der riskanten Operation, doch dann wurde ihr Wille zu hören größer als jede Angst.


    Die CI-Operation

    Die Operation war sehr schmerzhaft und auch die erste Zeit mit dem ungewohnten Implantat im Ohr; am Anfang gab das CI manchmal Stromschläge ab. Doch nach der zweiten und dritten Feineinstellung wurde es besser. Malu musste üben, Geräusche und Sprache zu erkennen. Freunde, die Malu länger nicht gesehen hatten, waren überrascht, wie viel sie plötzlich verstand und wie sich ihre Aussprache verbesserte.
    Das erste Telefonat mit ihrer Mutter dauerte über eine Stunde. Als Malu den Hörer weglegte, weinte sie vor Glück. „Das war ein unglaublich tolles Gefühl“, erinnert sie sich. Heute lebt Malu mit ihrem Freund Matthias Kottmann in Heidelberg. Der 25-Jährige ist selbst hörgeschädigt. Bei seiner Geburt zog sich die Nabelschnur um seinen Hals.

    Malu und Matthias haben beschlossen, ihre Behinderung einzusetzen, um anderen Kindern zu helfen. Sie studieren Pädagogik an der Hochschule mit dem Schwerpunkt Hörschädigung. Malu gefällt ihr Studium, nur das Zuhören und Mitschreiben falle ihr sehr schwer. „Am besten für mich ist es, wenn ich aus den Vorlesungen eine Mitschrift bekomme.“


    Manche Kommilitonen wussten nicht, wie sie Malu umgehen sollten. „Sie dachten, Menschen mit Hörschädigung ziehen sich zurück und sind schlecht drauf“, glaubt Malu. Aber dann fanden sie es toll, Malu kennenzulernen. „Die hätten wahrscheinlich nicht gedacht, dass Hörgeschädigte so gut drauf sind.“


    Wenn ich verschlossen bin, kommt auch keiner auf mich zu.

    Heute tritt Malu selbstbewusst auf. „Es gibt Hörgeschädigte, die verstecken sich in ihrer Welt.“ Ich sage mir: Wenn ich verschlossen bin, kommt auch keiner auf mich zu.“
    Malu spricht mit Akzent, manche Wörter kommen nur schwer über ihre Lippen. Und oft wünscht sie sich, besser zu hören. „Dann würde ich Diskussionen viel schneller mitbekommen“, sagt sie.
    Dafür weiß sie auch um ihre Vorteile. Noch immer kann sie gut von den Lippen ablesen; sie versteht Menschen zwischen Glasscheiben hindurch und die Worte ihrer Freundinnen auch bei dröhnender Discomusik. Außerdem, erklärt Malu, haben Hörgeschädigte ein besonderes Kombinationsvermögen. Versteht Malu nur einen Teil des Satzes, kann sie sich oft den anderen Teil dazu denken.



    Manchmal nimmt Sie die HÖrschädigung einfach mit HUmor.

    Und manchmal nimmt sie ihre Hörschädigung einfach mit Humor: Ein Dozent, der ihren Akzent wahrnahm, sagte zu ihr: „Ich finde es toll, dass du in Deutschland studierst. Du sprichst so gut Deutsch für eine Ausländerin.“ Wie gefällt es dir in Deutschland? „Mir gefällt es gut hier“, antwortete Malu. „Kommst du aus Frankreich?“, fragte er. Sie unterdrückte ihr Lachen und sagte: „Ja, gut getippt, ich komme aus Paris.“ ◆


    Das Interview führte Andreas Spengler. Andreas Spengler ist freier Journalist und arbeitet unter anderem für die ZEIT und andere Redaktionen. Wir konnten ihn für eine Reihe von Artikeln und Interviews als Journalist gewinnen. Unter dem Link: "Im Hörsaal ohne etwas zu hören. - ZEIT, 2013" lässt sich ein weiterer interessanter Artikel von ihm lesen.